Stillstand, Neustart und Familienzeit in La Paz, Baja California Sur

Corona hier in Mexiko?

Staatschefs in Europa verhängen zahlreiche Massnahmen, um ihre Bevölkerungen irgendwie vor dem neuartigen Virus zu schützen. Die Nachbarländer von Mexiko haben die Grenzen geschlossen. Noch interessiert dieses Virus hier kaum jemanden. Das Leben und der Alltag nehmen seinen gewohnten Lauf. Der mexikanische Staat überlässt die Problembewältigung jedem einzelnen. Aber natürlich macht das Virus nicht halt vor Mexiko und die ersten Menschen erkranken. Dann werden Massnahmen getroffen. Der Fokus liegt dabei auf gründlichem Händewaschen, Schulen und staatliche Ämter werden geschlossen und wer nicht dringend ins Spital muss, soll zu Hause bleiben.

Wir beraten uns und beschliessen zu Hause zu bleiben, auf soziale Distanz zu gehen, kein Strandbesuch, kein Genuss am Stadtleben… Schnell ist klar, zurückfliegen in die Schweiz wollen wir nicht. Unser freies Leben lieben wir und gross ist der Traum vom Weiterreisen. Kurzzeitig ist unser sicherer Hafen in La Paz. Bewusst haben wir ja diese Wohnung hier gesucht, um etwas länger zu bleiben, auch wenn dies nicht wegen Corona so geplant war. Dieses Virus können wir trotzdem genau hier aussitzen, denken wir.

Zunehmend werden langsam weitere Massnahmen getroffen: Bleib zu Hause, wenn du kannst, Mundschutz tragen, nur jemand aus der Familie darf Lebensmittel einkaufen, alleine Auto fahren mit Maske usw. Vorerst rückt aber all dies etwas in den Hintergrund, denn wir haben nur Augen für etwas ganz Besonderes!

Hallo Welt!

„Als ich dich sah, wusste ich, dass es ein Abenteuer geben würde.“ Pu der Bär

Wir sind überglücklich und schweben auf Wolke 7. Anfang April dürfen wir nämlich unser kleines Mädchen in die Arme nehmen und eins ist klar, loslassen werden wir dich nie wieder!

550 Tage sind wir zu zweit mit funkelnden Augen, neugierig, wissensdurstig, offen und zufrieden durch die Welt gereist. Haben im Marokkosand gespielt, neue Kulturen kennengelernt, sind unglaublich tollen Menschen begegnet, der Gaumen hat sich an leckere Geschmäcker und feines Essen gewöhnt, Manny nach Nordamerika verschifft, Freunde gewonnen, Berge erwandert, Strände entlang spaziert, abgelegene Orte entdeckt und unzählige, prächtige Naturerlebnisse genossen. Im hohen Norden von Kanada hast du dich, Ainoa, als kleine Mitreisende dazugesellt. Gut behütet im mütterlichen Bauch bist du mit uns durch Kanada und die USA bis nach Mexiko gereist. Und nun an unserem 551 Reisetag erblickst du ganz neugierig die Welt. Wir freuen uns auf die nächsten 551+ Abenteuer zu dritt. Zuerst geht es wohl in die Stadt der längsten Nächte, vorbei am Gefühlstornado, ins Märchenland bis zum Familienstrand…

Neustart: Familienzeit

Wie in Mexiko üblich, sind wir als frisch gebackene Eltern nach wenigen Stunden nach der Geburt wieder zu Hause; leicht überfordert, aber wahnsinnig glücklich! Um uns tobt das Corona-Virus. Doch bei uns dreht sich alles um unsere kleine Familie und wie im Flug vergeht die Zeit. Unglaublich toll und luxuriös ist es, diese Anfangszeit voll und ganz gemeinsam zu erleben. So geniessen wir es also sehr, miteinander den Familienalltag kennenzulernen. Es ist bezaubernd, Ainoa anzuschauen, wenn sie selig ruhig schläft, wenn sie herumzappelt, uns anschaut oder unsere Nähe sucht. Wir beschnuppern uns, lernen, geniessen und machen auch mal Luftsprünge… Gerne schauen wir ihr zu und können nur staunen. Sie ist einfach wundervoll!

Unsere Gefühle spielen auf jeden Fall verrückt und die Uhr ist wie stehen geblieben. Ainoa ist da, wir sind für sie da – und das finden wir gerade perfekt!

Startklar

Von Woche zu Woche wird Ainoa neugieriger und will auf Entdeckungsreise gehen. Genauso ergeht es uns. Ab in die Natur, Freiheit spüren, jeden Morgen woanders aufwachen, Wellenrauschen hören, draussen kochen, den grössten Garten geniessen, in irgendeine Himmelsrichtung loslaufen, die Füsse in den Sand stecken, am Lagerfeuer den Abend ausklingen lassen…

Doch das Virus wütet weiter. Wir sind in der Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt, gezwungen in der kleinen Stadtwohnung auszuharren. Zugänge zu Übernachtungsplätzen in der Natur sind gesperrt, Strände geschlossen, Grenzen zu und wir warten, warten und warten. Ein ständiges Rätseln, ob wir in naher Zukunft wieder losziehen können.

Stillstand

In der Schweiz sind die Corona-Massnahmen bereits wieder sehr stark gelockert. Hier in La Paz ist das Gegenteil der Fall. Stillstand. Dennoch gibt es keine gänzliche Ausgangssperre in Mexiko. Warum? Es würden mehr Menschen finanziell ruiniert werden, als am Virus schwer erkranken. Die Spannbreite zwischen arm und reich klafft immer weiter auf. Ein Problem, welches nicht erst seit der Corona-Krise vorherrscht. Nun aber werden mit der Pandemie und den damit verbundenen Massnahmen die bestehenden sozialen Probleme verstärkt.

Während in der Schweiz staatliche Rettungspakete wie Kurzarbeit oder Unterstützung für Unternehmen eingeführt werden, können die Mexikaner davon nur träumen. Ein Arbeitgeber ist trotz Arbeitsverbot vom Staat verpflichtet den Lohn zu 100% an seine Angestellten auszubezahlen und dies über Monate. Wie soll das in diesem Land gehen? Zudem leben viele Mexikaner von der Hand in den Mund.

Ihre Existenz ist bedroht. Auch wenn Quarantäne gefordert wird, diese Leute gehen raus, damit sie ein Einkommen haben. So öffnet ein älterer Herr täglich seinen Tacostand an der Strassenecke, der Glaceverkäufer auf seinem Fahrrad dreht seine Runden und die Autowaschanlage wird auch von einigen Leuten betrieben. Hoch ist das Risiko das Virus auf diese Art weiterzuverbreiten.

Nach mehr als einem Monat öffnen die staatlichen Ämter wieder und wir können endlich auf dem Standesamt Ainoas Geburt registrieren lassen. Zum Glück sind wir vor der Büroöffnungszeit vor Ort. Hinter uns bildet sich nämlich eine lange Babyschlange. Abstand halten fällt den Menschen hier schwer. Zu gerne schenken sie sich eine Umarmung oder berühren sich beim Schwatzen. Gerade die Babies sind ein Anziehungsmagnet für Damen die vorbeispazieren oder in dieser Schlange stehen. Hier mal ein Füsschen berühren und da mal über die Wange streicheln. Und wenn dann hier noch so ein hellhäutiges Mädchen zum ersten Mal an der frischen Luft neugierig um die Wette strahlt, ist Abstand halten unglaublich schwer. Tobi kämpft sich durch die Formulare und gut zwei Stunden später ist aus unserer Sans-Papiers eine kleine Mexikanerin geworden.

Neuanfang

Immer mehr Leute erkranken am neuen Virus und die Spitäler in La Paz kommen an ihre Grenzen. Seit Monaten hängen wir in der kleinen Wohnung fest: In einer Stadt, über die wir bislang nur oberflächliche Kenntnisse verfügen, deren Sprache wir nicht beherrschen und kaum jemanden vor Ort kennen.

Von Alaska Richtung Feuerland sollte unsere Reise in etwa gehen. Zumindest wollten wir einige Jahre auf dem Doppelkontinent verbringen. Doch bereits in Mexiko kommt alles anders. Unser Traum steht still und droht zu platzen. Wir diskutieren und wägen ab. Schlussendlich steht fest, wir brechen unsere Reise ab und kehren zurück in die Schweiz. Zu ungewiss sind für uns die Zeiten! Wann und wie wir nach Mexiko zurückkehren könnten, ist nicht planbar und deshalb nehmen wir Manny mit nach Europa. Obwohl, auf diesem Kontinent können wir nicht zu dritt in unserem geliebten rollenden Zuhause weiterleben. Da fehlt uns ein zugelassener Sitz. Schade, jetzt kommt alles anders… Ehrlich gesagt, rollt die eine oder andere Träne über die Wangen und selbst über den Entscheidungsprozess hinaus kullern Schweissperlen über unsere Stirn, denn das Thermometer zeigt nun täglich um die 40 Grad.

Neustart! – Was treibt uns dazu? Das Reisen wäre für uns nicht mehr dasselbe. Die Freiheit ist weg. Begegnungen auf eineinhalb Meter Abstand beschränkt, also wahrscheinlich kein freundlicher Händedruck, keine Umarmung, keine Einladungen, kein Treffen mit Fremden, die zu Freunden werden… Deshalb nehmen wir Abschied von unserem geliebten, freien Reisealltag. Doch es ist ein Kampf. Perspektiven fehlen und die Achterbahnfahrt der Gefühle nimmt seinen Lauf: Abschied vom Leben im Manny, Angst vor dem Hamsterrad in der Schweiz, Sehnsucht nach Normalität, Euphorie auf die Möglichkeit sich draussen zu bewegen, Freude auf Familie und Freunde…

150 Tage „eingesperrt“

Schweren Herzens kommunizieren wir unsere Entscheidung, damit wir sie selber auch irgendwann fassen und annehmen können. Bevor wir unsere Flüge buchen, erhält Ainoa ihren ersten Pass, Mannys Rücktransport nach Europa wird in die Wege geleitet, gepackt und ganz viel gewartet. Letzten Endes wurden wir 150 Tage gebeten zu Hause zu bleiben.

Manny steht am Hafen und wartet auf sein Schiff. Wir sind auf dem Weg an den Flughafen. Werfen einen letzten Blick aufs Meer und auf die trockene, karge Landschaft, Kakteen und vereinzelte Palmen am Stadtrand. Auf Wiedersehn Mexiko!

Eins ist uns klar, das Unterwegssein ist nie zu Ende, egal was kommt. Um unser freies Leben glücklich zu leben, müssen wir aber Veränderungen annehmen und uns anpassen können. In die Schweiz zu gehen, ist für uns im Moment die richtige Entscheidung und wir wissen: diese Reise ist zu Ende. Aber wir wissen auch, dass es irgendwann irgendwohin weitergehen wird!

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6 Comments
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Manuela
Manuela
14. September 2020 7:22

Hallo ihr lieben 3,ja die Wege nehmen manchmal einen ganz anderen Lauf wie man denkt….aber auch wenn es schwer ist,denke ich habt ihr im Moment die richtige Entscheidung getroffen. Wir freuen uns euch indemfall bald wieder zu sehen….bis bald. Macheds guet. Bin stolz auf euch. Glg

iris und wolfram
4. September 2020 13:02

Oh liebe Freunde, dieser Bericht ist herzzerreißend. Wir können soooo mit euch mitfühlen! Es ist um Heulen, aber auch wir müssen einen neuen Weg gehen. Sehen wir es buddhistisch – man muss Dinge hinter sich lassen können um neue Wege gehen zu dürfen. Wir wünschen euch viel Kraft UND Freude für euer neues Leben….

mary malters
mary malters
3. September 2020 21:43

Wow
Herzlich Willkommen in «alten Gefilden», auch wenn die Rückkehr nicht ganz so angedacht war früher…Ich wünsche euch eine ganz gute Zeit, wo und wie auch immer…