Warum?
„The traveller sees what he sees. The tourist sees what he has come to see.“
G. K. Chesterton, englischer Schriftsteller
Schon lange schlummert tief in uns das Verlangen, Neufundland zu bereisen. Aber wonach suchen wir? Vielleicht die Wahrheit eines Ortes, die Essenz, die nur geschätzt werden kann, wenn man ihn als Ganzes sieht. Wir glauben, darin liegt die Magie dieser Insel. So tauchen wir ein, lassen uns treiben und fühlen uns verloren und gleichzeitig gefunden.
Willkommen auf Neufundland
Mist, es wird wieder kalt, denken wir uns kurz. Auf Cape Breton gab es ab und zu auch wärmere Tage und jetzt fahren wir mit der Fähre übers stürmische Meer nach Neufundland. Schneewälle säumen die Strassenränder, Nebel schleicht um die Berge, Wind zerrt an den Klippen und der Regen prasselt vom Himmel. Das kann ja heiter werden…
Ein Wegweiser lenkt uns auf eine Nebenstrasse und führt uns in eine kleine Bucht mit Fischerhütten. Irgendwo sollen sich hier Wasserfälle verstecken. Der Nebel verpackt die Umgebung und wir sehen knapp fünf Meter weit. Beim Aussteigen pustet der Wind kräftig durch Manny und wir entscheiden uns mal wieder dafür, das Dach nicht aufzuklappen. Auch beim Umbauen für unser Notbett sind wir inzwischen ein eingespieltes Team.
Total überrascht werden wir am nächsten Morgen. Durch Wolkenlöcher scheint die Sonne. Wir stehen direkt am See und blicken auf den Wasserfall. Hinter uns sind die Fischerhütten und das Meer. Warm eingepackt und mit einer heissen Tasse Kaffee in der Hand saugen wir den Augenblick auf. Was für ein herrlicher Start in den Tag!
Seltsamer Dialekt
Junior, ein älterer Herr mit wenig Zähnen, kommt mit seinem Hund auf uns zu und heisst uns willkommen. Sein Hund badet im bitterkalten See. Mit einem breiten Neufundlanddialekt erklärt uns Junior, dass die beiden Fischerboote heute früh ausgelaufen sind und er beim Einwassern und später beim Ausladen mithilft. In ein paar Tagen starte die Lobster Saison und er freue sich riesig auf diese Zeit. Es fällt uns schwer seinen Erzählungen komplett zu folgen, aber mit Lächeln und Nicken scheinen wir nichts falsch zu machen und wir alle sind zufrieden.
Mit jeder Begegnung gewöhnt sich unser Ohr mehr an die Sprache und der seltsame Dialekt wird gewöhnlicher. So fühlen wir uns bald nicht mehr komplett verloren und gewinnen ihn sogar sehr lieb.
Der Küste entlang folgen
Blickt man auf die Karte, erkennt man schnell, dass es auf Neufundland eine Süd-Nord-Strasse und eine West-Ost-Verbindung gibt. Auf diesen Hauptverkehrsachsen hat es Abzweigungen, meist viele Kilometer durch die Natur, vorbei an kleinen Dörfern mit Holzhäusern an die Küste zu den Fischern. Jeder Abstecher wird auf derselben Strasse hin und wieder zurück gefahren, da es keine anderen Strassen gibt. Man könnte denken, kein Problem, wir sind auf einer kleinen Insel. Neufundland ist aber zweieinhalb Mal so gross wie die Schweiz. Deshalb müssen einige Kilometer mit eingerechnet werden, um nur mal eben kurz an die Küste zu fahren…
Ein Abstecher führt uns entlang der herrlichen Klippenlandschaft, vorbei an Fischerdörfchen zum Cape St. George. Niemand hat uns auf diese sagenhafte Natur vorbereitet. Staunend stehen wir am Klippenrand, blicken auf das wilde Meer, bis uns das Gesicht vom kalten Wind schmerzt.
Wir fahren mit Manny querfeldein auf eine Anhöhe und parkieren mit Blick aufs Wasser. Die Heizung läuft, die Scheiben sind beschlagen und wir wischen Löcher hinein, um die Landschaft zu bewundern, das Farben- und Wolkenspiel über dem Meer aufzusaugen und zu verinnerlichen.
Wanderlust
Eine andere Bucht lockt uns an, die Bay of Islands. Eisschollen treiben mit der Strömung und an Land ragen die Blow me down Mountains auf. Es packt uns, hier zu bleiben. Kaum angekommen klettern wir auch schon auf den Felsen herum und versuchen uns ab all der Schönheit sattzusehen.
Das Grau, die Nässe und die ungemütlichen Winde kehren plötzlich zurück. Doch das hält uns nicht vom Wandern ab.
Leise bewegen wir uns durch den Märchenwald und hoffen einen Elch zu sehen. Der Weg führt über Wurzelpfade steil nach oben. Im Gegensatz zu den Klippenwanderungen stehen wir mal wieder auf einer Bergspitze. Klar, es sind jetzt nicht gewaltig viele Höhenmeter und die Berge kann man nicht mit dem Hohen Atlas in Marokko vergleichen, aber dennoch ist es ein tolles Gefühl, oben angekommen zu sein und auf einem Berg zu stehen. Wir geniessen die Aussicht, einen anderen Winkel auf die Bay of Islands, bevor es durch den geheimnisvoll dampfenden Wald zurück ans Meer geht.
Es gibt zahlreiche Trails, kürzere und länger. Überall können wir die Natur ganz für uns alleine geniessen. Kein anderer Wanderer begegnet uns, aber auch die Elche bleiben vor uns im Dickicht versteckt. Es ist urchig, still und der Wind gibt der Gegend den passenden Namen.
Faszination Tablelands
Unser Weg führt uns in den beeindruckenden Gros-Morne-Nationalpark. Es ist noch ruhig hier. Die Grösse der Parkplätze an den Ausgangspunkten von Wanderungen verraten uns, dass hier einiges los sein kann. Wir sind stets alleine, wandern und staunen viel.
Eine äusserst spezielle Szenerie bieten die Tablelands, weswegen der Gros-Morne-Nationalpark zum UNESCO Weltnaturerbe erklärt wurde. Wir laufen über Gestein, das einst glühend heiss aus dem Erdmantel an die Oberfläche getreten ist. Auslöser war der Zusammenstoss zweier Kontinentalplatten, wobei der Druck von beiden Platten das Innere der Erde nach oben gepresst hat. An der Oberfläche oxidiert nun dieses Erdmantelgestein und erscheint ockergelb. Pflanzen mögen diesen Boden nicht. Er ist nährstoffarm und einzig fleischfressende Pflanzen sowie die heimischen roten Schlauchpflanzen wachsen hier. Entsprechend karg und wüstenähnlich ist die Landschaft.
Langer Weg nach Norden
Am Strassenrand finden wir überall kleine, eingezäunte Gärten. Im Moment liegt zwar noch Schnee, aber es scheint, als werde hier auch die kleinste Ackerfläche genutzt. Unterwegs nach Norden stimmen wir uns schon auf die Einsamkeit Labradors ein, denn die Abstände zwischen den Dörfern werden immer grösser. Es begegnen uns viele Karibus und wir sichten unseren ersten Elch!
Wegen dem vielen Schnee sind die Zufahrten zu interessant aussehenden Übernachtungsplätzen oft unmöglich. So kommt es häufig vor, dass wir mit Manny umdrehen müssen und irgendwo anders hin holpern. Selbst gewisse Versuche, zu Fuss ans Meer zu kommen, enden manchmal hüfttief im kalten Schnee.
Heimat der Eisberge
Auf der nördlichen Halbinsel machen wir uns auf die Jagd nach den eiskalten Giganten der Meere. Ob wir sie wohl sehen werden? Ihre Route bestimmen Strömung und Wetter. Viele Buchten sind noch zugefroren, voll mit Packeis. Als wir die zahlreichen Eisschollen im Wasser sehen, packt uns das Jagdfieber nach den Eisbergen noch mehr. Doch wir werden auf eine Geduldsprobe gestellt. Tagelang steht Manny im Nebel und all unsere Wanderungen entlang der Küste finden im tiefen Grau statt. Schade.
Wir sind hin und her gerissen: sollen wir noch länger bleiben oder weiterziehen? Die Wettervoraussichten bleiben für die nächsten zwei Wochen schlecht und betreffend die Sicht haben wir keine verlässlichen Informationen. Die Entscheidung ist hart, denn die Eisberge zu sehen ist ein Lebenstraum. Zum Greifen nahe, aber die Natur hat da wohl andere Pläne.
Buchten voller Packeis
Noch nie haben wir zugefrorene Meeresbuchten gesehen und Packeis hat schon auch seine Besonderheit. So kurven wir von Bucht zu Bucht, staunen und freuen uns über diese Eismassen. Ganz unerwartet taucht da gefangen im Eis ein Gigant auf. Glückstränen rollen übers Gesicht. Wir sind fasziniert und können uns kaum sattsehen. Es herrscht eine surreal schöne Stimmung. Der Eisberg bewegt sich, es knirscht und knarrt eindrücklich. Er steht da, wahrlich gigantisch, fragil und immer im Wandel.
Dieser Moment treibt uns an, weitere Buchten anzufahren. In der Ferne entdecken wir einige Eisberge. Mit blossem Auge sind sie fast unsichtbar, doch mit dem Fernglas scheinen sie riesig zu sein. Manche sind bis tausend Jahre alt und kommen von meilenweit. Unser Glück ist perfekt!
Geschichte an jeder Ecke
Es gibt kein Stein, keine Klippe und keine Bucht, die nicht irgendeine Geschichte erzählen kann. Gespannt stapfen wir an der Nordspitze der Insel durch den Schnee. Hier in L‘anse aux Meadows haben die Wikinger gut fünf Jahrhunderte vor Kolumbus’ Amerika-Entdeckung eine Siedlung gebaut. Von den alten Häusern, der Schmiede und anderen Bauten ist heute kaum noch etwas zu sehen. Allerdings hat «Parks Canada» tolle Nachbauten der Gebäude erschaffen, die im Sommer besichtigt werden können. Total beeindruckt von den Wikingergeschichten und der rauen Umgebung, sowie leicht durchgefroren, machen wir uns auf den letzten Streckenabschnitt nach St. Barbe. Dort werden wir die Fähre nach Labrador nehmen.
Neufundland ist atemberaubend, ausserordentlich und einfach toll. Es bietet unglaubliche Naturerlebnisse. Einheimische erzählen, dass sich das Wetter ständig ändert und man könne an einem Tag alle vier Jahreszeiten erleben. Bei uns ist vor allem Regen, Schnee, Wind und Nebel vorherrschend. Wenn dann alle Kleider nass sind und wir von Kopf bis Fuss tropfen, wird es auch im Manny manchmal ein bisschen eng. Wir stehen vor neuen Herausforderungen.
Wie auf einer teuren Bootstour
Zeit spielt für uns schon lange keine Rolle mehr. Wir fühlen uns nicht verloren, als es heisst, heute fährt die Fähre nicht, kommt morgen früh wieder. Früh nehmen sie da wörtlich. Also rattern wir in den ersten, noch dunklen Morgenstunden mit den leuchtenden Scheinwerfern über die Piste auf den Highway zum Hafen. Und siehe da, die Fähre ist vor Ort und legt während einem wunderschönen Sonnenaufgang ab. Jetzt geht es auf nach Labrador!
Eigentlich ein Katzensprung, bloss 90 Minuten soll die Fahrt dauern. Bei stahlblauem Himmel kriegen wir aber eine sechsstündige Bootstour um eine unglaublich grosse, vor sich hintreibende Eisinsel aus unzähligen Eisschollen. Für uns traumhaft und spannend. Eisberge zieren den Horizont und sogar ein Wal schwimmt neben uns her.
«Welcome to the Big Land»
In der Gemeinde Emmen im Agglomerationsgebiet von Luzern leben rund 30’000 Menschen, zehn Prozent mehr als in der endlosen Weite von Labrador. Während Emmen gerade mal 20 Quadratkilometer Platz für die Menschen bietet, ist die Fläche von Labrador so gross wie Italien. Klar ist, die Natur überwiegt hier und das geniessen wir. Für die einsamen Streckenabschnitte des 1’246 km langen Trans-Labrador-Highway organisieren wir uns in L’Anse-au-Clair ein kostenfreies Satellitentelefon. Diese werden von der Provinz zur Sicherheit der Reisenden zur Verfügung gestellt. Doch so einsam sind wir schlussendlich gar nicht. Mindestens zehn Fahrzeuge am Tag begegnen uns. Das ist mehr als an vielen Tagen in der Mongolei oder in Marokko.
Der Trans-Labrador-Highway
Entlang der Küste ist noch einiges los. Kleine Siedlungen, Fischerbuchten, ein Leuchtturm und eine alte baskische Walfangbasis erzählen ihre Geschichten. Bald ändern sich aber die Entfernungen zwischen den Dörfern. In Port Hope Simpson erinnert ein Schild ans auftanken. Danach fährt man über 410 Kilometer durch die Wälder von Labrador bis nach Happy Vally-Goose Bay! Dazwischen gibt es absolut nichts. Die Strecke lässt sich aber wirklich entspannt fahren. Selbst der im Verhältnis kleine Abschnitt unbefestigte Strasse ist nichts herausfordernd. Die Piste ist so gut präpariert und breit, dass nicht mal ein Offroadfahrgefühl aufkommt. Kein Schlagloch, kein Wellblech, nicht mal holprig sind die letzten 280 km nicht-asphaltierte Strasse.
Der unendlich grosse Wald wird immer öfters von kleinen Seen, Mooren und Flüssen unterbrochen. Auch liegt nur diese eine Strasse in der schier unendlichen Anzahl Nadelbäumen. Es ist nicht sehr abwechslungsreich, aber wunderschön. Die meisten Seen sind noch zugefroren und überall liegen Schneereste. Doch nicht mehr die 6.5 m, die hier im Winter lagen. Diese Menge Schnee übersteigt irgendwie unsere Vorstellungskraft. Wie das wohl aussehen mag, wenn alles vom Schnee begraben ist?
Logisch, dass Manny sein, nennen wir es auffälliges Verhalten, auf dieser Waldstrasse zeigt. Vielleicht wünscht er sich mal wieder ein bisschen Aufmerksamkeit. Wir schenken ihm die, indem wir unser Tempo halbieren und mit 40 km/h vor uns hertuckern, damit der Öldruck nicht ans Limit steigt. So wird Happy Valley – Goose Bay, was nicht gerade ein Touristenmagnet ist, zu einem Ort für den ersten Werkstattbesuch in Nordamerika.
The past is where we come from
In der Gegend gibt es ein Innu First Nation Reservat. Wir sind interessiert an der Geschichte, dem Zusammenleben und den Schwierigkeiten, die die moderne Zeit mit sich bringt. Verschiedene Menschen berichten über sich als Innu, Inuit und Métis. Obwohl Innu und Inuit sehr ähnlich klingt, sind es ganz unterschiedliche Kulturen. Die Inuit haben vor allem Jagd auf Meeressäuger gemacht, während die Innu Nachfahren von halbnomadischen Elch- und Karibujäger sind. Bevor europäische Fischer Fuss nach Labrador setzten, gehörte das Land diesen indigenen Völkern. Einige dieser Europäer lebten mit indigenen Frauen. Deren gemeinsamen Nachfahren nennt man Métis.
Flauschiger Schwarzbär
Wir haben gehört, dass die ersten Bären aus dem Winterschlaf aufgewacht sind. In Labrador sollen viele Schwarzbären leben. Wir scherzen, wie cool es wäre, wenn einer vor uns über die Strasse gehen würde. Eines Morgens ist es dann soweit. Ein Bär taucht am Strassenrand auf, überquert die Strasse, schaut zurück und kommt auf uns zu. Als er uns etwas zu nahe scheint, schliessen wir das Fenster und warten ab. Er posiert und zeigt sich von der allerbesten Seite. Wir kommen aus dem Bewundern und Staunen nicht mehr hinaus. Er sieht knuffig aus. Dennoch ist und bleibt es ein Wildtier, das mit dem notwendigen Respekt betrachtet werden muss.
Viele Kilometer durch Quebec
Labrador grenzt an die Provinz Quebec. Nach perfekten Asphaltstrassen ändern sich hier die Strassenverhältnisse drastisch. Auf einer schlammigen Piste ziehen wir an eindrucksvollen Minengebieten und der Geisterstadt Gagnon vorbei. Nur noch das Dorfeingangsschild und die alte Landebahn beim Flugplatz erinnern an die Minenstadt. Alles andere wurde wieder komplett abgebaut und entfernt.
Auf der Karte entdecken wir einen spannend aussehenden See mit einer riesigen Insel in der Mitte. Dieser enorme Meteoritenkrater dient heute als Stausee für das Manic 5 Kraftwerk. Der Damm, um den Krater zu stauen ist gigantisch. Bei unserer Ankunft verschwindet die Mauer immer wieder mystisch im Nebel. Nach vielen weiteren Kilometer erreichen wir den Sankt Lorenz Strom und kommen dem Frühling immer näher. Der Schnee liegt hinter uns und die Wiesen beginnen zu blühen.